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2. März 2020 Ingrid Diener

«Ein Buffet an Möglichkeiten»

Das zivilgesellschaftliche Engagement hat in den vergangenen Jahren abgenommen. Damit sich Menschen wieder vermehrt engagieren, ist eine breitere Auswahl an Einsatzmöglichkeiten nötig – ob in der analogen oder digitalen Welt.

Zivilgesellschaftliches Engagement ist überall zu sehen: im Tram, wenn eine ältere Frau Hilfe beim Einladen ihrer Einkäufe braucht, im Fernsehen, wenn Jugendliche auf der ganzen Welt Greta Thunberg auf die Strasse folgen und auf die Klimakrise aufmerksam machen, vor der Haustür, wenn Nachbarinnen und Nachbarn den Innenhof der Siedlung für das Sommerfest dekorieren. Die Zivilgesellschaft ist ein Konstrukt, auf das wir Menschen angewiesen sind. Denn sie hält uns zusammen und macht, dass unsere Gemeinschaft funktioniert.

Die Beispiele zeigen, dass zivilgesellschaftliches Engagement zahlreiche Facetten aufweist. Sie ist Freiwilligenarbeit, die im lokalen Raum stattfindet. Sie ist «Schule der Demokratie», wie es Cornelia Hürzeler sagt, Projektleiterin Soziales beim Migros-Kulturprozent und Auftraggeberin der Studie «Die neuen Freiwilligen». Denn in Vereinen – als Spiegelbild unseres politischen Systems – lernen wir die Grundwerte ebendieses Systems kennen. Und die Zivilgesellschaft zeigt, welche Themen die Öffentlichkeit bewegen. Letztes Jahr machte beispielsweise der Klimastreik Schlagzeilen. «Möchte die Politik wissen, wo der Schuh drückt, dann lohnt sich der Blick in die Zivilgesellschaft», so Hürzeler.

Gemeinsam den Garten pflegen – hier in der Siedlung Sihlfeld

«Möchte die Politik wissen, wo der Schuh drückt, dann lohnt sich der Blick in die Zivilgesellschaft.»

Cornelia Hürzeler, Projektleiterin Soziales beim Migros-Kulturprozent

Staat, Markt und Zivilgesellschaft

Die Zivilgesellschaft hat also auch eine kritische Funktion gegenüber Staat und Markt und ergänzt diese beiden Systeme. Gemäss der erwähnten Studie ist das Zusammenspiel zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft jedoch dynamisch. Sprich: Die Aufgabenteilung verändert sich stets. Der Staat sichert zum Beispiel die Schulbildung und die medizinische Versorgung. Der Nahverkehr wurde hingegen vielerorts privatisiert, weil er dem Staat zu teuer wurde. Von der Zivilgesellschaft übernimmt der Markt beispielsweise die Betreuung von Pflegebedürftigen, weil Familien diese Aufgabe immer öfter abgeben. Und die Zivilgesellschaft erfüllt Aufgaben, die einfach und flexibel erledigt werden können – zum Beispiel das Aushelfen bei einem Festival oder die Teilnahme an einer Demonstration. Sobald eine Aufgabe komplex wird oder sich damit Geld verdienen lässt, gibt sie die Zivilgesellschaft ab.

Gemäss Hürzeler ist die Zivilgesellschaft darüber hinaus Motor und Ort der Innovation. «Oft entstehen gute gesellschaftliche Lösungen in der Zivilgesellschaft und finden dann Eingang in die Strukturen des Staates», sagt sie.

An der Vergabekonferenz des ABZ-Solidaritätsfonds bstimmten die Bewohnerinnen und Bewohner mit, welche Projekte wie viel Geld erhalten.

Einfach, flexibel und projektbezogen

Fast die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer engagiert sich freiwillig. Einerseits im Rahmen von informeller Freiwilligenarbeit, die beispielsweise die Betreuung von verwandten oder bekannten Kindern und Erwachsenen beinhaltet. Andererseits zeigt sich das Engagement in der institutionalisierten Freiwilligenarbeit, am häufigsten in Sport- oder Kulturvereinen, karitativen Organisationen, kirchlichen Institutionen und Interessensvereinigungen. Dieses Engagement nimmt jedoch in der Schweiz seit den 1960er-Jahren ab. Gemäss der Studie «Die neuen Freiwilligen» möchten sich Menschen heute nicht mehr langfristig in starren Strukturen verpflichten. Sie haben eine Fülle an Möglichkeiten, ihre Freizeit zu gestalten – somit nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, dass sie sich etwa in einem Verein beteiligen. Hinzu kommt die gestiegene Mobilität: Wohnen, Arbeiten und Freizeit finden oft nicht am selben Ort statt. Entsprechend fühlen sich viele weniger an einem Ort verankert, was dem freiwilligen Engagement abträglich ist.

«Wer meint, er oder sie wisse es besser, wird die Freiwilligen schneller vertreiben, als man das Wort aussprechen kann.»

Cornelia Hürzeler, Projektleiterin Soziales beim Migros-Kulturprozent

Zivilgesellschaftliches Engagement muss heute also einfach, flexibel und projektbezogen möglich sein. Gemäss Hürzeler kann ein Verein beispielsweise den Aufbau seiner Website einer Person übertragen, der oder die das gerne macht. Auch kann die Organisation des Rahmenprogramms einer Mitgliederversammlung einer kleinen Gruppe als Projekt zugewiesen werden. «Dabei ist es wichtig, dass man bereit ist, Verantwortung abzugeben, loszulassen und Platz zu machen. Wer meint, er oder sie wisse es besser, wird die Freiwilligen schneller vertreiben, als man das Wort aussprechen kann», sagt sie.

Zudem möchten Freiwillige mitdenken, mitbestimmen und das von ihnen unterstützte Ziel mitdefinieren. Ein einfaches Erfüllen von ihnen zugewiesenen Aufgaben reicht nicht. Denn die Menschen möchten mit Gleichgesinnten einen Unterschied machen und etwas bewegen.

Bunter Siedlungsanlass im Regina-Kägi-Hof
Klein und Gross helfen beim Bau der Spielstadt im Glattpark mit.

«Wichtig ist, dass man den Leuten eine Auswahl an Einsatzmöglichkeiten bietet.»

Cornelia Hürzeler, Projektleiterin Soziales beim Migros-Kulturprozent

Ein goldenes Zeitalter

Eine enorme Vereinfachung der Partizipation hat die Digitalisierung bewirkt. Gemäss der erwähnten Studie engagieren sich viele Menschen nicht, weil sie nicht wissen, wo. Das Internet hat hier Türen geöffnet und mit Wikipedia-Artikeln, Youtube-Videos, Bewertungen auf Tripadvisor oder Facebook-Gruppen das «goldene Zeitalter der zivilgesellschaftlichen Partizipation » eingeläutet. Auch die Kooperation in der realen Welt wird dadurch einfacher. Das grösste Potenzial sieht Hürzeler in Plattformen und Apps, die einfach aufgebaut und lokal verankert sind. «Die Leute wollen digital schnell ans Ziel kommen. Wenn ihnen das nicht gelingt, sind sie weg.»

Die Vereinfachung von freiwilligem Engagement durch den digitalen Weg bedeutet aber nicht, dass dieser nun am häufigsten genutzt wird: Rund ein Viertel aller Menschen engagieren sich digital, aber nur zwei Prozent ausschliesslich digital. Hürzeler weist in diesem Zusammenhang auf Folgendes hin: «Wichtig ist, dass man den Leuten eine Auswahl an Einsatzmöglichkeiten bietet. Man muss ein Buffet anrichten und den Leuten erlauben, sich das zu nehmen, was gerade zu ihrer Lebenssituation passt – sei dies, sich im Verein, in der Nachbarschaft, digital oder auch mal gar nicht zu engagieren.»

Mitwirken bei der Entwicklung der ABZ-Strategie 100+

Mitwirken und mitbestimmen

In der ABZ hat das freiwillige Engagement eine lange Tradition. Seit ihrer Gründung sind Siedlungskommissionen und Aktivgruppen fester Bestandteil der Genossenschaft. Sie stärken Nachbarschaft und Gemeinschaft, indem sie beispielsweise Siedlungsfeste veranstalten und die Mieterjahresversammlungen organisieren. Die ABZ will darüber hinaus, dass ihre Bewohnerinnen und Bewohner die Organisation mitentwickeln. Dafür stehen Gefässe wie die Generalversammlung oder die Mieterjahresversammlung zur Verfügung. Aber auch im Rahmen von Projekten wie im letzten Jahr der Vergabekonferenz des Solidaritätsfonds und vor fünf Jahren bei der Erarbeitung der Strategie 100+ kann sich die Bewohnerschaft einbringen. Der Einbezug der Genossenschafterinnen und Genossenschafter ist ebenfalls im Leitbild der ABZ festgehalten: «Unsere Mitglieder bestimmen als kollektive Eigentümerschaft bei grundlegenden Themen mit und tragen die Genossenschaft so gemeinsam […].»

Grundsätzlich besuchen ABZ-Bewohnende häufiger Anlässe in ihrer Siedlung als solche, die die Genossenschaft als Ganzes betreffen. Zudem nehmen Ältere und engagierte Mitglieder häufiger an den ABZ-Veranstaltungen teil. Herausfordernd ist, dass besonders Jüngere, Fremdsprachige und Menschen mit weniger Ressourcen kaum in diese aktive Gemeinschaft integriert sind. Doch genau die unterschiedliche Zusammensetzung von Freiwilligen ist wichtig. Das bestätigt auch Hürzeler. «Eine Wohnsiedlung bietet die grossartige Möglichkeit, über gemeinsame Themen hinweg miteinander zu agieren. Es gibt Fragestellungen, die alle betreffen und die sehr gut verteilt werden können.» Das Ziel sollte sein, nicht immer dieselben Freiwilligen anzusprechen. Deshalb will die ABZ die Mitwirkung, das gemeinschaftliche Engagement und Initiativen stärken.

«Eine Wohnsiedlung bietet die grossartige Möglichkeit, über gemeinsame Themen hinweg miteinander zu agieren. Es gibt Fragestellungen, die alle betreffen und die sehr gut verteilt werden können.»

Cornelia Hürzeler, Projektleiterin Soziales beim Migros-Kulturprozent

Kommen und gehen, wann man will

Dafür ist ein einfacher Zugang zu Mitwirkung nötig. Denn je niederschwelliger eine Einsatzmöglichkeit ist, umso mehr Menschen nehmen daran teil. In der Siedlung Glattpark zum Beispiel hat die ABZ-Geschäftsstelle ein Mitwirkungswochenende veranstaltet. Zwei Mitarbeitende aus der Siedlungs- und Quartierarbeit waren vor Ort, luden mit einem Marroni-Stand zum Gespräch und liessen die Bewohnerinnen und Bewohner Ideen für die Gestaltung der Innen- und Aussenräume entwickeln. Alle durften kommen und gehen, wann sie wollten, und waren an keine Aufgaben gebunden. So kann jede und jeder das beitragen, was sie oder er will (siehe auch Interview rechts). Mit solchen einfachen Einsatzmöglichkeiten kann sich später das Interesse für weitere Anlässe und Projekte sowohl in der Siedlung als auch in der Genossenschaft als Ganzes entwickeln.

Wir sollten uns bewusst sein: Jeder Beitrag – ob gross oder klein, einmalig oder langjährig – ist wertvoll für die Gemeinschaft. Und obwohl das zivilgesellschaftliche Engagement tendenziell abnimmt, ist es wichtig, auch das Positive zu sehen: Die Schweizerinnen und Schweizer, die ABZ-Bewohnerinnen und -Bewohner engagieren sich freiwillig, deshalb sollten wir jeden Einsatz schätzen. Das freiwillige Engagement ist nicht immer sichtbar, aber es ist vorhanden und stärkt die genossenschaftliche Identität.

Lesen Sie die ganze Studie «Die neuen Freiwilligen» hier.

Fotografie
ABZ, Margherita Angeli, Tres Camenzind, Simon Näher, Reto Schlatter

Ingrid Diener

Ist Wandervogel, Tennis-Fan und Teetrinkerin. Hat am liebsten Sommer. Bei der ABZ für die Kommunikation im Einsatz.

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